Das Möbel im Möbel

Ein Beitrag von Marco Iezzi

Mensch und Möbel – A Space Odyssey

Wer mehr hat als ein Hemd und eine Hose, braucht Möbel. Schliesslich lassen sich Geschirr, Kleider und Kochutensilien noch nicht in der Cloud ablegen. Daher stellt die gesellschaftliche Entwicklung die Bedingung: maximale Mobilität auf kleinstem Raum.

Über Raum und Materie haben sich schon schlaue Köpfe denselbigen zerbrochen. Aber im Gegensatz zur theoretischen Physik stand den Möbelbauern über die Jahrhunderte ein bisschen weniger Platz zur Verfügung als die Unendlichkeit des Universums. Ihr Universum war und ist der begrenzte Raum: Wohnungen, Büros und Messegelände. Es gilt, Gegenstände zu verstauen, übersichtlich zu präsentieren und wenn irgend möglich die Funktion in eine Form zu bringen, die das Auge erfreut und das alltägliche Leben unterstützt.

Dabei waren Entwicklung und Funktion der Möbel stets eng mit der Lebensweise der Menschen verbunden. Entscheidend für das Aufkommen der ersten Möbel war die Neolithische Revolution. Bis anhin Jäger und Sammler und als solche nomadisch lebend, wurden die Menschen durch diesen Epochenwechsel zu Viehzüchtern und Ackerbauern und somit sesshaft. Siedlungsplätze wurden bezogen und eingerichtet. Das erste Möbel überhaupt ist heute nicht mehr sehr verbreitet, verdankte seinen damaligen Erfolg aber einem topmodernen Feature: Multifunktionalität. Dieses erste Möbel war die Truhe. Sie diente zur Aufbewahrung, als Transportkoffer, Sitzgelegenheit und, ja, auch als Bett. Nach und nach entwickelte sich die heute bekannte Dreifaltigkeit der Innenraumgestaltung: Tafelmöbel, Sitzmöbel und Aufbewahrungsmöbel. Das Möbeldesign folgte also den veränderten Lebensumständen des Menschen und den daraus resultierenden Bedürfnissen.

Entwicklung und Auswirkung

Wie in den Anfängen des Möbelbaus wurden die gesellschaftlichen Entwicklungen über die Jahre hinweg als Impuls für neue Trends und Interpretation in Form und Funktion der Möbel umgesetzt. Nach den eher konservativen 50er Jahren ermöglichten die Aufbruchsstimmung und neue Werkstoffe Designmeilensteine wie Joe Colombos «Minikitchen». Ein visionäres Konzept einer kleinen kompakten Küche auf Rädern. Eine Idee, die sich bis heute hält und in Form der multifunktionalen Kitcase-Küchenkombination vor allem auf Messen, Events und in Provisorien weiterlebt. Das Designerduo chmara.rosinke hat diese Grundidee mit «Mobile Hospitality» neu interpretiert und dabei eine weitere Stufe der Mobilität eingeführt.

Das mobile Wiener Küchenmodell durchbricht die Wände, trägt Funktion und Nutzen auf die Strasse und transportiert so gleich zwei der aktuellen Megatrends: Urbanisierung und Mobilität.1 Trends, die unser Privat- und Arbeitsleben bereits jetzt massgeblich beeinflussen und dies in Zukunft immer mehr tun werden. Entscheidend dafür war das Jahr 2008, in dem erstmals mehr als 50% der Weltbevölkerung in Städten lebten, in absoluten Zahlen sind das 3,3 Milliarden Menschen.

Bis 2030, so schätzt man, werden 5 Milliarden Menschen die Städte bevölkern.2 In der Schweiz manifestiert sich diese Verschiebung noch eindrücklicher. Lebten um 1800 rund 10% der Bevölkerung in einer Stadt, so waren es zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits rund 75%.3 Bestehende Strukturen neu zu überdenken, wird auch durch das erhöhte Mobilitätsbedürfnis ausgelöst. Die fortschreitende Globalisierung und zunehmende Vernetzung erhöht den Aktionsradius von Menschen und Unternehmen und fordert so vom Individuum erhöhte Mobilität.

Neue Formen für neue Bedürfnisse

Für die Zukunft heisst das, wir rücken näher zusammen und müssen beweglich bleiben. Die Anforderungen an unsere Tools sind somit klar: hohe Funktionsdichte auf kleinem Raum und Überwindung fester Strukturen. Die Architektur brachte über die letzten Jahrzehnte immer wieder erste, visionäre Modelle hervor, die die aktuelle Entwicklung vorwegnahmen und entsprechende Raumkonzepte entwickelten. Ein entscheidender Schritt dafür war die 1927 gebaute Weissenhofsiedlung in Stuttgart. Revolutionär waren die fehlende Opulenz, im Gegensatz zum damalig vorherrschenden Jugendstil, und die flexiblen Grundrisse. Durch ein Minimum an Form soll ein Maximum an Freiheit erreicht werden.

1950 entstand das Möbelsystem «M 125» von Hans Gugelot, ein Baukasten mit Platten, Winkeln und Beschlägen, der es erlaubte, verschiedene Korpusse, Regale und Einbauwände zu konstruieren. Visionäre Konzepte wie die «Total Furnishing Unit» von Joe Colombo aus den frühen 70er Jahren faszinieren und inspirieren die Designwelt auch heute noch. Die multifunktionale Wohnzelle besticht durch futuristisches Design und ist gleichzeitig sehr flexibel. So lassen sich aus dem Wohnblock einzelne Elemente lösen und frei im Raum anordnen, sodass je nach Bedarf verschiedene Wohnsituationen entstehen können. Diese ordnet Colombo primär sechs zentralen Gebrauchssituationen zu: Schlafen, Frühstück, Arbeiten, Wohnen, Dinner und Party. Auf einer Fläche von knapp 28 Quadratmetern gelingt es ihm somit, funktionale und platzsparende Lösungen für Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer sowie Arbeits- und Gesellschaftsbereich zu kombinieren. Eine wahre Meisterleistung in Sachen Multifunktionalität!

Angetrieben durch die demografische Veränderung und die damit verbundenen Bedürfnisse entwickelt das Berliner Unternehmen Ambivalenz seit 2012 Ideen für flexible Räume und bietet mit seinem Fläpps-System gleich mehrere Möbelarten im Klappsystem an, das den vorhandenen Raum optimal nutzen lässt.

Trend als Chance für Unternehmen

Vor allem Unternehmen in einem Erfinderland wie der Schweiz können sich durch clevere, multifunktionale Lösungen profilieren. Schliesslich haben die Schweizer der Welt eines der kompaktesten und multifunktionalsten Tools überhaupt geschenkt: das Taschenmesser.

Vor allem für Möbel- und Messebauer bieten die Anforderungen der sich verändernden Bedürfnisse hervorragende Möglichkeiten, sich als trendbewusster und innovativer Partner zu profilieren. Um in der Gegenwart bestehen zu können, muss die Vergangenheit verstanden und die Zukunft gedacht werden. Multifunktionale und mobile Möbel sind ein Zeichen der Zeit und verlangen von ihren Gestaltern einen ebenso mobilen wie vernetzt denkenden Geist. Denn nur so kann man weiterhin begeistern und im Markt bestehen.

Publikation

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Brandworld-Ausgabe von 2014.