Im deutschsprachigen Raum gehört Dr. Urs Seiler zu den profiliertesten Kennern der Livecom-Szene. Als langjähriger ehemaliger Chefredaktor der Fachzeitschrift Expodata, Buchautor und Blogger gehört er zu den Meinungsmachern der Messe- und Eventszene. Mit seinem digitalen Newsroom für Live-Kommunikation smartville.digital berichtet er seit 2020 mit spitzer Feder über das Geschehen der Branche. In der Corona-Krise hat sich für die Schweizer Veranstaltungsindustrie gezeigt, was es bedeutet, ein unabhängiges und verlässliches Sprachrohr zu haben. Grund genug, mehr über den Menschen und die Facetten hinter diesem engagierten Journalisten zu erfahren.
Hallo Urs, erzähl uns doch mal, wer du bist?
Ich bin ein smalltown boy, der durch Heirat neben seinem schweizerischen auch einen englischen Pass erworben hat. Aber meine englische Frau hat immer gesagt, «you can take the boy out of Dübendorf (wo ich aufgewachsen bin), but you can’t take Dübendorf out of the boy.» Das ist, wer ich bin. Nothing wrong with that. Ich hatte eine glückliche Jugend in Dübendorf. Die Bullies hatten mich aus irgend einem Grund immer verschont.
Du befasst dich seit 30 Jahren mit der Veranstaltungsindustrie. Was fasziniert dich an der Live-Kommunikation?
Vor mehr als zwanzig Jahren, es war ungefähr 1998, bin ich auf den Buchklassiker «Erlebniskauf. Konsum als Ereignis. Business als Bühne. Arbeit als Theater» von Joe Pine gestossen. Der Titel des englischen Originals lautet «Experience Economy». Die Theorie zum Thema «Erlebniswirtschaft» war damals neu, revolutionär. Ich kenne bis heute keinen besseren Begriff, auch nicht auf Deutsch, als eben «experience», der das beschreibt, was Messen und Events ausmacht. Solche Aha-Effekte hat man nicht jeden Tag. Etwas vorher hatte mich ein Szenograf und Vordenker schon auf den Begriff des «Imagineering», also des professionellen Engineerings von (grossen) Ideen für Markenevents im Raum gebracht.
Zu verstehen, dass die grossen Marken dieser Welt ihre Events nach der Dramaturgie der Hollywood-Blockbusters inszenieren, war ein weiterer Heureka-Moment, wie man ihn nur wenige Male im beruflichen Leben hat. Beide Personen begleiten mich heute noch. Heute fasziniert mich die Beobachtung, wie sich die Veranstaltungsindustrie während Covid transformiert hat und wie schnell sie das getan hat. Die tun was. Wenn ich meinen Nachruf verfassen müsste, müsste darin stehen: Er war happy in der Messe- und Eventwirtschaft, machte grossartige Begegnungen mit unglaublich loyalen Kunden. Aber ich treib’s noch ein paar Jahre weiter.
Urs Seiler und Matt Lucas von Little Britain im Emirates Stadium von Arsenal.
Was treibt dich an?
Ich habe im Sport vor einer Prüfung irgendwann verstanden, dass immer noch mehr trainieren oder arbeiten nicht zum Erfolg führt. Man muss hart und smart arbeiten. Seither befasse ich mich semiprofessionell mit mentalem Training. Das Faszinierende daran: Mentale Stärke ist so lern- respektive trainierbar wie physisches Training. Sie ist nicht abhängig von Begabung, Herkunft oder Naturell. Übung macht den Meister. Ich arbeite jeden Tag daran. Ich unterrichte es auch.
Was war der Treiber für die Gründung eines neuen, digitalen Newsroom für die Livecom-Branche?
Bayley/Mavity, die Autoren von «Life’s a Pitch» sagen, Business ist ein bisschen wie Stendhals Beschreibung der Schlacht von Waterloo: ein nebliges Chaos, unterbrochen von sporadischen Ausbrüchen wilder Aktivität. Wie du mit den langen, brachliegenden Abschnitten umgehst, spielt keine grosse Rolle. Entscheidend ist, wie du mit den Momenten der Veränderung umgehst. Hätte ich dieses Buch nur früher gekannt. Es hätte mir die gesamte restliche Lektüre von Literatur erspart! Only joking! Ich hatte zu Beginn von Covid nach 28 Jahren mein Mandat als Chefredaktor von Expodata, Fachzeitschrift für Live-Kommunikation, verloren, aber ich wollte zu den Covid-Gewinnern gehören und wir haben smartville.digital lanciert. Beides hat ordentlich funktioniert.
Dr. Urs Seiler, smartville.digital
«Ich habe einfach keine Vision, weshalb die Begegnung von Menschen ihre Anziehungskraft, ihre Magie verlieren sollte.»
Wie ist die Akzeptanz mittlerweile in der Branche und was möchtest du mit diesem Newsroom erreichen?
Wir haben mit smartville.digital rasch eine gute Akzeptanz für den Inhalt erreicht, wie ich von zahlreichen Kommentaren höre. Wir möchten mithelfen, den Stellenwert und das Können von Live-Kommunikation unter die Leute oder unter mehr Leute zu bringen. Wir möchten eine angesehene, respektierte Drehscheibe für Live-Kommunikation sein.
Wo sind die Herausforderungen bei einem solchen neuen Projekt?
Ich komme aus einer Generation von Journalisten, die ich als «Content-Fuzzis» beschreiben möchte. Wir sind gross geworden mit einer tiefen inneren Überzeugung, dass je besser unsere Storys sind, desto grösser der Response. Das ist immer noch richtig. Aber es reicht nicht mehr. Reichweite herzustellen ist heute nicht mehr primär eine Frage deiner «Schreibe», es ist eine Frage der Technologie. Hier umzudenken und umzustellen, das sind die wirklichen Herausforderungen. Das jeden Tag zu tun ist anstrengend und Durststrecken in Kauf zu nehmen ist frustrierend.
Das permanente Umdenken, Neu-Lernen, Multitasken, Verändern, vor allem in technologischer Hinsicht – das sind die Herausforderungen. Sie fallen mir als «Content-Fuzzi» schwer. Sie treiben mich Tag und Nacht um. Aber sie sind auch ein wunderbares Abenteuer, wenn man das Formulieren eines Ziels, bevor man den Weg kennt, mag. Mir gefällt das Eingehen von kontrollierten Risiken ohne Sicherheitsnetz.
In Hastings in East Sussex im Süden von England ist Urs Seiler zu Hause.
Gibt es aus journalistischer Sicht einen Unterschied, ob du für ein digitales oder ein analoges Medium berichtest?
Der entscheidende Unterschied ist wohl wieder die «Schreibe», die Tonalität. Online-Storys sind medienbedingt viel kürzer und ihre Tonalität lehnt sich eher der Sprechweise der jungen, der Millennialgeneration, an. Vielleicht ist die Schreibe auch einfach frecher. Ein Blog baut ja per se auf der Usererwartung eines «subjektiven» Touchs auf, die anmassende «Objektivität» von Journalisten ist hier nicht der richtige Sprachgebrauch. Die Tonalität von Blogs gleicht mehr dem Sprachgebrauch, wie man ihm in sozialen Netzwerken wie Instagram oder TikTok begegnet. Also muss man als Journalist und Blogger auch hier umdenken. Wenn mein Slang frecher und kürzer ist als der meiner Enkel, bin ich angekommen.
Wo geht die Reise der Livecom-Branche hin? Wagst du eine Prognose?
Wir haben im 2005 die vierte Auflage unseres Buchklassikers «Messen messbar machen» aufgelegt. Der Untertitel von dem, was die Branche damals benötigte war «Mehr Intelligenz pro Quadratmeter». Heute müsste man sagen «Mehr digitale Intelligenz pro m2». Die Live-Kommunikationswirtschaft ist auf gutem Weg dazu, mehr zu bieten als den Quadratmeter, «experiences» auch digital zu schaffen. Aber ich halte es mit dem Geschäftsführer der Messe Frankfurt, der sagt, wenn Covid vorüber ist, wird sich kein Mensch mehr für digitale Messen interessieren.
Sein Nachweis stammt aus China, wo seit Oktober 2020 (!) wieder Messen mit 150 000 Gästen stattfinden. Der Caravan Salon in Düsseldorf wurde im September 2021 von 185 000 Leuten besucht. Ich habe einfach keine Vision, weshalb die Begegnung von Menschen ihre Anziehungskraft, ihre Magie verlieren sollte. Aber «hybrid» wird bleiben, wenn es der Verlängerung der Reichweite von Events dient, nicht als deren Ersatz. Wir müssen uns lösen vom Mythos, Messen und Events, die physische Begegnung von Menschen, sei digital ersetzbar. Der angesehene frühere Vorsitzende der Koelnmesse, Jochen Witt, sagt, digitale Messen seien wie eine digitale Dusche. Dem ist nichts hinzuzufügen.
In zehn Jahre werden Messen und Events …
… kleiner, regionaler, hybrider, reichweitenstärker. Covidbedingt, weil plötzlich hochspezialisiertes Personal fehlt und weil Materialien mehr kosten, werden sie auch teurer, aber effizienter, es kommt mehr Ergebnis raus. Vielleicht sind sich Auftraggeber nicht bewusst, wie aufwendig zum Beispiel Streaming-Technologien in Konzeption und Produktion sind. Aber da müssen sie jetzt durch.
In zehn Jahren wird Urs Seiler …
… in London, im Geld und in love sein. Aber wahrscheinlich kommts wieder anders. Das ist auch ok, ich bin offen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Über smartville.digital
Urs Seiler ist Gründer und Herausgeber der Online-Plattform smartville.digital. smartville.digital ist Newsroom und unabhängige journalistische Stimme für Live-Kommunikation. Der Newsroom ist kostenlos abonnierbar. smartvile.digital bringt Perspektiven, Breaking Views, News, Interviews und Coverstories zur Messe- und Eventwirtschaft in den deutschsprachigen Ländern. smartville.digital macht Marktstudien, Corporate Communication, Spitzen-PR und führt Messetrainings für die ausstellende Wirtschaft. Urs Seiler ist Co-Autor des Longseller-Buches «Messen messbar machen. Mehr Intelligenz pro m2» (Springer, 2005).
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