Mit allen Mitteln der Kunst

Interview mit Sibylle Lichtensteiger

Künstlerische Leitung und Gesamtleitung
Stapferhaus

Die Fragen, die das Stapferhaus thematisiert, bewegen, berühren, polarisieren – oder sind sogar unbequem. Wer sich der sinnlichen Besuchserfahrung aussetzt, wird mit einer beeindruckend immersiven Ausstellung, neuer Gedankennahrung und einem unvergesslichen Erlebnis belohnt. Das Stapferhaus in Lenzburg sieht sich als offenes Labor für die Kunst des Lebens – und erhielt für sein Engagement als Ort des Dialogs und der Inspiration den Europäischen Museums­preis EMYA 2020. Gesamtleiterin Sibylle Lichtensteiger gewährt uns einen Blick hinter die Kulissen.

Frau Lichtensteiger, herzliche Gratulation zum Europäischen Museumspreis EMYA 2020. Was bedeutet dieser Preis Ihnen und Ihrem Team?

Er ist Ehre und Verpflichtung zugleich. Mit Blick auf die Gewinner:innen in anderen Jahren, zum Beispiel das Naturalis (NL) im 2021, stehen dem Stapferhaus viel weniger Platz und viel bescheidenere finanzielle Mittel zur Verfügung. Umso stolzer sind wir über das Zeichen aus der internationalen Museumswelt, dass wir trotzdem in dieser obersten Liga mitspielen. Wir seien ein Museum, wie es andere auch sein sollten, schreibt die Jury. Unser Anspruch ist natürlich, dass dies auch in den nächsten Jahren so bleibt!

Sibylle Lichtensteiger, Künstlerische Leitung und Gesamtleitung Stapferhaus

«Wenn ein Thema polarisiert, ist es uns besonders wichtig, gerade auch die Menschen zu erreichen, die dem Thema kritisch begegnen.»

Welche Möglichkeiten eröffnet eine solche Auszeichnung? Rennen Ihnen die Besucher:innen jetzt die Türen ein?

Die Besucher:innen kommen fast ausschliesslich über Mund-zu-Mund-Propaganda in die Ausstellung. Das heisst: In erster Linie muss die Ausstellung überzeugen – und das ist auch gut so! In der nationalen und internationalen Museums­szene stärkt der Preis aber selbstverständlich das Interesse am Stapferhaus. Wir freuen uns, dass sich uns damit neue Netzwerke öffnen und hoffentlich auch spannende Ausstellungspartnerschaften.

Das Stapferhaus führt keine materielle Sammlung im klassischen Sinn, sondern setzt sich in Form von thematischen Ausstellungen mit den wichtigen Fragen unserer Zeit auseinander. Welche Kriterien muss ein Thema erfüllen, damit es im Stapferhaus «ausstellungswürdig» wird?

Das Medium der Ausstellung ist deshalb so spannend, weil es eigentlich alles kann: Film, Literatur, Ton und Theater, bildende Kunst oder Objekte – und dies alles zusammengehalten über eine räumliche Inszenierung, die daraus ein Ganzes macht. Ob in einer Ausstellung auch klassische Objekte vorkommen oder nicht, weist sich erst während der Arbeit an der Ausstellung. Als Entscheidungskriterium für die Themenwahl dient uns allein die gesellschaftliche Aktualität und die Relevanz eines Themas.

Ihre Ausstellungen bestechen durch eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema. Die Besucher:innen können dabei in eine immersive Erlebniswelt mit klugen Exponaten und aufwendig inszenierten Räumen abtauchen. Konzipieren Sie die Ausstellungen selbständig mit Ihrem Team oder arbeiten Sie auch mit externen Szenografen oder Ausstellungsmachern zusammen?

Es ist wichtig, dass Inhalt und Form von Anfang an eng zusammengehen. Die externen Gestalter:innen (Szenografie und Grafik) sind deshalb bereits bei der «Geburtsstunde» mit von der Partie. Danach taucht das Kurations- und Inhaltsteam tief in die Recherche ein und versucht, die Ziele, Thesen und wichtigen Aspekte eines Themas herauszuschälen. Dies diskutieren wir dann intensiv mit den Gestalter:innen und arbeiten fortan in möglichst engem Austausch.

In Ihrer aktuellen Ausstellung «Geschlecht» widmen Sie sich allen Facetten der Geschlechterfragen. Was war die grösste Herausforderung bei diesem doch polarisierenden Thema? Wie hat das Publikum darauf reagiert?

Wenn ein Thema polarisiert, ist es uns besonders wichtig, gerade auch die Menschen zu erreichen, die dem Thema kritisch begegnen oder damit schlicht nichts anfangen können. Bei der Recherche zu GESCHLECHT ist uns aufgefallen, dass die Diskussionen dann besonders spannend werden, wenn wir nachfragen: Warum interessiert dich das Thema nicht? Weshalb hat es wenig mit dir zu tun? Oder weshalb nervt es dich? Die Antworten auf diese Fragen waren vielschichtig und haben uns dazu ermuntert, das Thema anzupacken und es aus der Streit-Ecke in einen Dialog-Ort zu verwandeln.

Gibt es einen bestimmten Stil, der die Ausstellungen im Stapferhaus auszeichnet und sich von dem anderer Konzepte oder Museen unterscheidet? Sozusagen typisch Stapferhaus?

Weil wir die Gegenwart im Fokus haben, bringen alle Besucher:innen ihre eigene spannende Erfahrung mit – sie sind nicht nur Besucher:innen, sondern auch Expert:innen. Die Fragen und Geschichten der potenziellen Besucher:innen interessieren uns aber nicht erst, wenn die Ausstellung offen ist, sondern bereits während der Recherche. Im Moment zum Beispiel arbeiten wir an der nächsten Ausstellung zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur: Ein Förster, eine Bäuerin, ein Zoowärter oder eine Extremkletterin haben dazu mindestens so Spannendes zu sagen wie eine Biologin. Diese Gespräche sind wichtig, damit die Ausstellungen nicht an den Themen der Besucher:innen vorbeizielen – und sie bringen uns auf spannende Ideen.

Lenzburg ist ein sehr schmuckes Städtchen, aber nicht unbedingt ein Museums-Hotspot wie Basel oder Zürich. Wie wichtig ist der Standort für den erfolgreichen Betrieb eines Museums in der Schweiz?

Wer das Stapferhaus nicht kennt, denkt bei Lenzburg schnell an «Provinz» und steigt wohl kaum von Basel in den Zug nach Lenzburg, um eine Ausstellung zu sehen. Wer es aber kennt oder begeisterte Stimmen dazu hört, der reist extra an. Das heisst auch: Es gibt wenig Ablenkung und die Besucher:innen bringen Zeit und Musse mit. In der Ausstellung GESCHLECHT bleiben sie durchschnittlich rund drei ­Stunden. Das ist viel Zeit und führt zu einer wirklich tiefen Auseinandersetzung mit einem Thema. Das ist der Vorteil von Lenzburg. Zudem steht das Stapferhaus im «­Durchschnittskanton» und irgendwie auch auf neutralem und nicht sonderlich «trendigem» Grund, das ist für uns eine spannende ­Position.

Sibylle Lichtensteiger, Künstlerische Leitung und Gesamtleitung Stapferhaus

«Ich finde es faszinierend, dass Ausstellungen eine nationale Debatte lancieren und damit auch Identifikation stiften können.»

Was zeichnet heute einen modernen Museumsbetrieb aus und was sind Ihre grössten Herausforderungen im Alltag?

Das Publikum bringt anspruchsvolle Sehgewohnheiten mit sich. Sie sind sich smarte Displays und perfekte visuelle Welten gewohnt. Wir wollen und können im Stapferhaus nicht mit Apple, Netflix und Co konkurrieren – aber wir müssen mit viel weniger finanziellen Mitteln inspirierende, involvierende, beeindruckende und natürlich inhaltlich spannende Welten erschaffen und diese auf vielen Kanälen kommunizieren. Das ist viel Arbeit und erfordert Geld, das wir für jedes Projekt von Neuem selber auftreiben müssen – immer auch mit der Angst im Nacken, dass es mal nicht klappt.

In der Schweiz soll 2027 wieder eine Landesausstellung stattfinden. Wie ist Ihre Haltung als Ausstellungsmacherin generell zu Landes- und Weltausstellungen? Sind diese noch zeitgemäss oder jetzt sogar erst recht notwendig?

Ich finde es faszinierend, dass Ausstellungen eine nationale Debatte lancieren und damit auch Identifikation stiften können. Weil Ausstellungen mit vielen Formaten spielen, haben sie das Potenzial, ein breites Publikum zu involvieren. Als Ausstellungsmacherin interessiert es mich natürlich, dieses Potenzial in einer Landesausstellung auszuloten und Wege zu suchen, wie es sich ausschöpfen lässt, gerade auch in unserer fragmentierten Gesellschaft.

Verschiedene Konzepte liegen für die Expo 2027 auf dem Tisch. Was wünschen Sie sich persönlich für eine nächste Landesaustellung in der Schweiz?

Sie kann nicht die Expo.02 kopieren, sondern muss neue Wege finden. Die Frage, wie wir zusammenleben und den gemeinsamen Weg in die Zukunft finden wollen, ist zurzeit besonders brisant. Ich wünsche mir, dass sich die nächste Ausstellung auf diese fundamentale Frage einlässt und sich damit ganz bewusst auch an ein Publikum richtet, das weit über das klassische Kulturpublikum hinausgeht.

Welche/s Museum/Ausstellung haben Sie kürzlich besucht und hat Sie besonders beeindruckt?

Ich war im Naturalis in Leiden (NL) kurz nach seiner Eröffnung und vor dem ersten Lockdown. Die Art und Weise, wie das an eine Universität angegliederte Museum mit der
Öffentlichkeit in Dialog tritt, hat mich beeindruckt. Dementsprechend gefreut habe ich mich, dass es gleichzeitig wie das Stapferhaus den Europäischen Museumspreis verliehen bekommen hat. Während das Stapferhaus für 2020 ausgezeichnet worden ist, ist es das Naturalis für 2021.

Vielen Dank für das Gespräch.

Über das Stapferhaus

Bereits seit 1960 stellt sich das Stapferhaus schwierigen Fragen und grossen Ideen und regt zum Dialog an. Seit 2018 animieren die Ausstellungen im pionierhaften Neubau direkt beim Bahnhof Lenzburg zum Mitdenken und Mitmachen. Hier erkunden Neugierige eine sinnliche Ausstellungswelt, setzen sich mit der eigenen Sichtweise auseinander, hinterfragen Selbstverständliches und gewinnen neue Perspektiven. Für seine einzigartige Herangehensweise und phantasievolle Präsentation hat das Stapferhaus den prestigeträchtigen Europäischen Museumspreis 2020 erhalten. Die aktuelle Ausstellung «Geschlecht» läuft noch bis Mitte Mai 2022.

stapferhaus.ch