Interview mit Dr. Martina Kühne

«Es wird Nachholbedarf geben»

Die Corona-Krise hat die Welt zur Veränderung gezwungen. Bleiben Live-Erlebnisse im Geschäftsalltag wichtig? Oder treffen wir uns in Zukunft nur noch online? Dr. Martina Kühne erforscht seit vielen Jahren den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel und wagt im Interview einen Ausblick.

Frau Dr. Kühne, wie hat die Pandemie Ihren Arbeitsalltag verändert?

Das Interesse an der Zukunft und der Zukunftsforschung ist in den letzten Monaten massiv gestiegen. Viele Unternehmen sowie ihre Entscheidungsträger haben realisiert: Wer sich mit den Trends von morgen und übermorgen auseinandersetzt und entsprechende Szenarien entwickelt, kann im Heute bessere Entscheidungen fällen. Insofern ist ein besseres Verständnis von zukünftigen Entwicklungen eben nicht nur «nice to have», sondern ein Must-have – gerade in so unsicheren Zeiten, wie wir sie momentan erleben. Diese Erkenntnis beschert uns zum einen erfreulicherweise viel Arbeit. Zum anderen erledigen wir unsere Arbeit teilweise anders als vor der Pandemie. Wir sind weniger unterwegs, reisen weniger und führen dafür viele Gespräche, Meetings oder Konferenzen virtuell durch.

Dr. Martina Kühne, Kühne Wicki / Future Stuff

«Der Wert des persönlichen Austausches und des spontanen Zusammentreffens wird uns mehr denn je bewusst.»

Was wird sich nach dieser einschneidenden Erfahrung nachhaltig in der Kommunikation verändern?

Trends, die sich bereits vorher in der Kommunikation abgezeichnet haben, werden nun beschleunigt. Eine grosse Mehrheit der Menschen hat im Lockdown mit digitalen Kommunikationstechnologien herumexperimentiert und selber erfahren, was funktioniert und was nicht. Wer Technik und Tools beherrscht, kann heute online beispielsweise gute Gespräche führen, Interaktionen erzeugen und zügig Meetings durchführen. Zugleich wird uns der Wert des persönlichen Austausches und des spontanen Zusammentreffens mehr denn je bewusst. Mal spontan in der Kaffeepause mit dem Kollegen eine gute Idee aushecken oder beim Lunch neue Projekte anreissen – solche Dinge finden im Homeoffice viel weniger statt.

Reicht eine solche Pandemie, um kulturell stark verwurzeltes Verhalten dauerhaft zu verändern?

Kein Händeschütteln, keine Küsschen, keine gemeinsamen Kaffeepausen – tatsächlich sind bereits viele liebgewonnene Rituale der Pandemie zum Opfer gefallen. Dabei sind solche für uns Menschen eben sehr wichtig, sie geben Orientierung und Sicherheit, sind wichtig für den Zusammenhalt. Sie werden also nicht einfach verschwinden, aber sie werden sich verändern. Nehmen wir das Beispiel der Begrüssungsrituale: Ihre zentrale kulturelle Bedeutung (Kontakt herstellen, Vertrauen schaffen etc.) bleibt, doch in der Art und Weise, wie sie ausgeführt werden (Fist Bump statt Hände reichen, verneigen statt abküssen) sind die Menschen erfinderisch. Zumal die drei Begrüssungsküsschen für viele Menschen schon vor Corona zu viel und zu intim waren.

Gibt es Erfahrungszahlen, wie lange eine solche Pandemie gesellschaftlich nachstrahlt? Die Spanische Grippe kennt man ja nur noch aus den Geschichtsbüchern.

Eine globale Pandemie, die alles lahmlegt? Ein solches Szenario gehörte für die meisten von uns bis anhin nicht nur in die Geschichtsbücher, sondern in einen Science-Fiction-Film. Nun ist die Pandemie im Eilzugtempo zum realen Szenario geworden. Und weiterhin ist ungewiss, wie lange sie noch dauern wird. Wir befinden uns also nach wie vor in einem Ausnahmezustand, in einem riesigen sozialen Experiment.

Welche Trends hat Corona Ihrer Ansicht nach beschleunigt?

Die Möglichkeiten der Digitalisierung, welche von Zukunftsforschern schon seit Jahren angepriesen werden, wurden nun endlich grossflächig genutzt. Zum Beispiel im Bereich der Arbeit: flexiblere Arbeitszeiten, mehr Homeoffice, weniger Pendeln. Nun haben es viele, auch zukunftsskeptische Arbeitgebende sowie Arbeitnehmer/innen ausprobiert und können die Zukunft der Arbeit basierend auf ihren Erfahrungen neu ausgestalten, innovative Arbeitsformen etablieren, eine bessere Work-Life-Balance definieren etc. Dasselbe beim Thema Einkaufen: Online-Shops, Food Delivery oder Contactless Payment sind nun für die meisten Menschen keine futuristischen Fremdwörter mehr.

Wir glauben weiterhin an die persönliche Begegnung und die Einzigartigkeit des Live-Erlebnisses. Ist das in Zukunft noch gefragt?

Und ob! Wir Menschen sind soziale Wesen und die Zeit des Lockdowns hat uns auch gezeigt, wo die Grenzen der Technologie, der Digitalisierung, des Virtuellen liegen. Doch in Zukunft wird es weniger darum gehen, das eine gegen das andere auszuspielen (z.B. das Live-Konzert gegen die Streaming-Plattform). Vielmehr geht es darum, das Angebot an möglichen Erlebnisformaten auszuweiten. Balkon- oder Drive-in-Konzerte, Youtube-Wohnzimmerständchen — viele Menschen waren in den letzten Monaten durchaus kreativ und haben neue Erlebnisformen entwickelt.

Wie sehen die Events und Messen der Zukunft aus?

Wir gehen davon aus, dass wir noch eine Weile mit dem Virus leben werden und wir unsere Umwelt entsprechend anders bauen und gestalten müssen. Dabei spielt das Design und die Frage, wie wir unsere Städte und Quartiere, Läden und Freizeitparks, aber eben auch Events und Messegelände in Zukunft designen werden eine entscheidende Rolle. Abstands-App und Designer-Schutzmasken sind erste Ansätze, aber für grosse Messe-, Konzert- oder Sportveranstalter/innen werden die Massnahmen noch weiter gehen müssen. Das wird herausfordernd, weil vermutlich auch unbeliebte Massnahmen ergriffen werden müssen. Das kann zum Beispiel über begrenzte Besucherzahlen gehen, über flächendeckende Tests oder über intelligente Messeausweise, die Bewegungsprofile aufzeichnen. Das klingt nicht angenehm – aber wiederum: Wer hätte Anfang Jahr schon gedacht, dass wir nun mit Schutzmasken im ÖV unterwegs sind?

Dr. Martina Kühne, Kühne Wicki / Future Stuff

«Die Themen Gesundheit, Nachhaltigkeit, aber auch die Verschmelzung von Analog und Digital werden weiter an Bedeutung gewinnen.»

Was ist Ihrer Ansicht nach notwendig, damit Messen und Events weiterhin attraktiv bleiben?

Die Themen Gesundheit, Nachhaltigkeit, aber auch die Verschmelzung von Analog und Digital werden weiter an Bedeutung gewinnen. Bleiben wir beim Thema Gesundheit: Viele Eventserlebnisse sind heute nach wie vor durch enge Platzverhältnisse, stickige Luft und schlechtes Licht geprägt. Wie können Eventelemente aussehen, die diese Faktoren in Zukunft mitdenken? Die im Sinne von Nachhaltigkeit zudem weniger Energie- und Materialverbrauch erzeugen? Und was ist mit Messen, die analog und zugleich auch digital durchgeführt werden? Aktuell sehen diese Konzepte noch unreif aus, aber da gibt es noch Luft nach oben.

Können digitale Angebote in Zukunft das Gleiche leisten wie persönliche Begegnungen?

Digitale Angebote müssen nicht zwingend das Gleiche leisten. Sie sind auch nicht per se besser oder schlechter, sondern sie sind eine andere Form. Viel entscheidender als die Form scheint mir allerdings der Inhalt eines Events oder einer Messe. Ist dieser banal oder langweilig, dann wir das Ganze auch in digitaler Form nicht besser. Ist dieser jedoch spannend, findet man immer Wege, um das Analoge und das Digitale miteinander zu verbinden und Wow-Erlebnisse zu erzeugen.

Glauben Sie, dass sobald eine Impfung verfügbar ist, die Menschen wieder ins alte Leben zurückfinden werden?

Alles wird nicht anders, aber einiges schon. Um nochmals beim Beispiel der Events zu bleiben: Wer merkt, dass er oder sie Grossveranstaltungen momentan nicht vermisst, wird in Zukunft auch geimpft nicht mehr unbedingt hingehen und kleinere, dezentralere Formate bevorzugen. Doch ein leidenschaftlicher Fussballfan will die Spiele schnellstmöglich wieder live im Stadion verfolgen. Ein passionierter Musiker will wieder ins Konzertlokal. Public Events lassen die Menschen aus dem Alltag ausbrechen, strukturieren das Jahr (Fussball- WM, Musikfestivals etc.), ermöglichen zufällige Begegnungen, erzeugen grosse Gefühle und Wow-Momente. Und auch die Geschäftswelt wird sich auf Messen, Kongressen und Corporate Events wieder treffen, austauschen und vernetzen. Es wird nach der Corona-Krise einen Nachholbedarf geben.

Über Kühne Wicki / Future Stuff

Martina Kühne und Senem Wicki erforschen den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Aus ihrer Arbeit für namhafte Think Tanks wissen sie, dass viele Menschen innovativ sein wollen – aber nur wenige es wagen, Veränderung auch wirklich herbeizuführen. Die Corona-Krise hat die Welt zur Veränderung gezwungen. Was dies für die Zukunft bedeutet, analysieren die beiden Trend- und Zukunftsforscherinnen zusammen mit ihrem internationalen Netzwerk aus Design, Wirtschaft und Wissenschaft. Als Co-Gründerinnen von «Kühne Wicki / Future Stuff», einem interdisziplinären Büro für Zukunftsfragen in Zürich, machen sie die Zukunft für Unternehmen und Organisationen schon heute greif- und begreifbar.

kuehnewicki.com